Merkblatt zur BK Nr. 4104: Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs
- in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung
(Asbestose)
- in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter
Erkrankung der Pleura oder
- bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen
Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens
25 Faserjahren (25 x 106 [(Fasern/m3)
x Jahre])
Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 4104
der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung
(Bek. des BMA v. 1.12.1997 - IVa 4-45206, BArbBl 12/1997,
S. 32)
Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs
in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung
(Asbestose)
in Verbindung mit durch Asbeststaub
verursachter Erkrankung der Pleura oder
bei Nachweis der Einwirkung einer
kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz
von mindestens 25 Faserjahren (25 x 106
[(Fasern/m3) x Jahre])
I. Vorkommen
und Gefahrenquellen (s. Merkblatt zu Nr. 4103)
II. Pathophysiologie
(s. Merkblatt zu Nr. 4103)
Eingeatmete Asbestfasern besitzen
neben fibrogenen für den Menschen gesicherte
kanzerogene Eigenschaften. Wie für andere Tumoren
gilt sowohl für den asbestverursachten Lungenkrebs
(hier synonym: Bronchialkarzinom) als auch für
den asbestverursachten Kehlkopfkrebs (hier synonym:
Larynxkarzinom gemäß der TNM-Klassifikation
der UICC), daß die Erkrankungswahrscheinlichkeit
im wesentlichen vom Lebensalter, der individuellen
Disposition sowie der in den Körper aufgenommenen
und mit den Zielzellen in Wechselbeziehung tretenden
Dosis beruflicher und außerberuflicher krebserzeugender
Noxen abhängt. Eingeatmete Asbestfasern können
eine lokale krebserzeugende Wirkung auf die Epithelzellen
der mittleren und tieferen Atemwege ausüben.
Ergebnisse der Grundlagenforschung haben für
Asbestfasern bestimmter kritischer Abmessungen sowohl
tumorinitiierende als auch tumorpromovierende Wirkungen
nachgewiesen. Zu den Mechanismen der Asbestfaserkanzerogenese
zählen u.a. die Stimulierung des Zellwachstums
entsprechend demjenigen maligner Zellen (Transformation)
sowie Mitosestörungen, welche zu Veränderungen
von Zahl (Aneuploidie, Polyploidie) und Struktur
(Brüche, Fragmente) der Chromosomen führen.
Die vorliegenden Erkenntnisse sprechen
dafür, daß Erkrankungen an asbestfaserinduzierter
Fibrose, Lungenkrebs und Kehlkopfkrebs unterschiedliche
Endpunkte an getrennten Zellsystemen ablaufender
Pathomechanismen sind, bei denen Wechselwirkungen
vorkommen können.
Einen wesentlichen kanzerogenen Einfluß
besitzen Durchmesser, Länge und Form der eingeatmeten
und im Atemtrakt deponierten Asbestfasern sowie
ihre von der chemischen Zusammensetzung abhängige
Beständigkeit im Gewebe, möglicherweise
auch Oberflächeneigenschaften. Individuelle
Bedeutung haben das broncho-pulmonale Reinigungsvermögen
und weitere dispositionelle Faktoren. In seiner
Bedeutung bekannt ist das Zusammenwirken von Asbestfasern
mit anderen inhalativen und speziell krebserzeugenden
Noxen, insbesondere dem Zigarettenrauch.
Die Ablagerung von Asbestfasern kritischer
Abmessungen im Kehlkopfbereich ist prinzipiell auf
2 Arten möglich:
a) Durch Zentrifugalkräfte
aufgrund der Verwirbelung des Luftstromes infolge
der Kehlkopfgeometrie (Impaktion).
b) Durch die mukoziliare Clearance (Deposition).
Hierdurch werden im tiefergelegenen Atemtrakt
abgelagerte Faserstaubpartikeln über das
Flimmerepithel der Schleimhaut in Richtung Kehlkopf
rücktransportiert.
Hals-Nasen-Ohrenärztliche Untersuchungen
haben gezeigt, daß ein erheblicher Anteil
eingeatmeter Teilchen besonders im vorderen Stimmbandbereich
abgelagert wird. Beim vorderen Stimmbandbereich
handelt es sich um eine Prädilektionsstelle
der Kehlkopfkrebserkrankung. Asbestfasern in der
Schleimhaut des Larynx konnten nachgewiesen werden,
ebenso Asbestkörperchen im Larynxbereich. Nicht
maligne asbestfaserbedingte Veränderungen sind
als "laryngeal asbestosis" beschrieben worden. Es
liegen keine biologisch plausiblen Erkenntnisse
darüber vor, daß die Wirkungen von Asbestfaserstaub
auf das Zielgewebe des Larynx von denjenigen auf
die tiefergelegene Bronchialschleimhaut differieren.
III.
Krankheitsbild und Diagnose
Lungenkrebs
Der asbestverursachte Lungenkrebs
weist klinisch und diagnostisch keine wesentlichen
Unterscheidungsmerkmale gegenüber einem Lungenkrebs
anderer Ätiologie auf. Die Frühsymptome
sind uncharakteristisch. Beispielhaft zu nennen
sind therapieresistenter Reizhusten, blutiger Auswurf,
Atelektasen und bronchopneumonische Prozesse mit
verzögerter Heilungstendenz. Bildgebende Verfahren,
bronchoskopische und Sputumuntersuchungen auf tumorverdächtige
Zellen stützen die Verdachtsdiagnose. Bei Asbestfaserstaub-Einwirkung
in der Arbeitsanamnese müssen alle verdächtigen.
z. B. röntgenologischen Veränderungen
und jeder Bildwandel dringend abgeklärt werden.*)
Eine frühzeitige bioptische Klärung
ist anzustreben. Feingeweblich werden alle bekannten
Turmorformen gefunden.
Relativ bevorzugt sind - wie
bei der Lungenasbestose - die Unterfelder betroffen.
Der Primärsitz des Tumors kann sich im Bereich
sowohl der Lungenwurzel als auch der Lungenperipherie
befinden. Differentialdiagnotisch müssen insbesondere
Lungenmetastasen eines Primärtumors anderer
Lokalisation ausgeschlossen werden.
Kehlkopfkrebs
Der wesentlich durch Abestfaserstaub
am Arbeitsplatz mitverursachte Kehlkopfkrebs weist
klinisch und diagnostisch keine verwertbaren Unterscheidungsmerkmale
gegenüber Larynxkarzinomen anderer Ätiologie
auf. Die Erkrankung beginnt mit Heiserkeit, Schluckbeschwerden
und Fremdkörpergefühl. Später treten
Luftnot bzw. Halslymphknotenschwellungen hinzu.
Die Diagnosesicherung erfolgt mittels Kehlkopfspiegelung
und bioptischer Verfahren zur histologischen Differenzierung.
Bildgebende Verfahren dienen nicht der primären
Diagnosestellung. Meist handelt es sich um verhornende
Plattenepithelkarzinome, seltener um gering verhornende
oder undifferenzierte Karzinome. Die gute Zugänglichkeit
und die Tatsache, daß Frühstadien an
den Stimmbändern durch Heiserkeit auffallen,
läßt Tumoren dieser Lokalisation oft
rechtzeitig diagnostizieren und erfolgreich behandeln.
In fortgeschrittenen Tumorstadien führt die
komplette Entfernung des Kehlkopfes z. T. ebenfalls
zu längerfristigen tumorfreien Überlebenszeiten.
Frühstadien lassen sich durch Teilresektion
des Kehlkopfes oder manchmal Radiotherapie behandeln.
Die Sterblichkeit infolge des Kehlkopfkarzinoms
ist stadienabhängig. Sie liegt insgesamt bei
40 bis 50 % der Erkrankten.
IV.
Weitere Hinweise
Lungenkrebs
Im Ursachenspektrum des Lungenkrebses
werden zunehmend äußere Einflüsse
erkannt. An erster Stelle ist das Zigarettenrauchen
zu nennen. Unter den Risikofaktoren des Arbeitsplatzes
besitzt Asbestfaserstaub Priorität. Die Asbestfaserstaub-Einwirkung
am Arbeitsplatz und die Zigarettenrauchinhalation
wirken offensichtlich multiplikativ zusammen. Eine
längerfristige, intensive Einwirkung von Asbestfaserstaub
am Arbeitsplatz erhöht das Grundrisiko, an
Lungenkrebs zu erkranken, sowohl bei Nichtrauchern
als auch bei Zigarettenrauchern um ein Mehrfaches.
Die individuellen Besonderheiten einer
Asbestfaserstaub-Einwirkung können in der Regel
nur durch eine gründliche, sachverständige
und lückenlose Arbeitsplatz- und Berufsanamnese
in Erfahrung gebracht werden. Hierbei ist stets
die jahrzehntelange Latenzzeit seit Beginn der Asbestfaserstaub-Einwirkung
zu berücksichtigen. Das Risiko besteht auch
nach Ende der Asbestfaserstaub-Einwirkung fort.
Die Anamnese hat stets auch die Rauchgewohnheiten
möglichst detailliert zu erfassen.
Beim Vorliegen einer Lungenasbestose,
einschließlich Minimalasbestose (s. Merkblatt
zu Nr. 4103) ist das Lungenkrebsrisiko erhöht.
Der Nachweis einer Minimalasbestose setzt eine gezielte
lichtmikroskopisch-feingewebliche Untersuchung voraus.
Auch die durch Asbestfaserstaub verursachte
Erkrankung der Pleura ist als Marker für eine
zurückliegende, wesentliche Asbestfaserstaub-Einwirkung
und darüber hinaus für ein erhöhtes
Lungenkrebsrisiko anzusehen.
Die im Merkblatt zu Nr. 4103 genannten
verschiedenen Formen der durch Asbestfaserstaub
verursachten Pleuraerkrankungen sind ebenso, wie
die Lungenasbestose, einschließlich Minimalasbestose,
als Kriterium für die Wahrscheinlichkeit einer
durch Asbest verursachten Erkrankung an Lungenkrebs
anzusehen.
Diese Kriterien zur Bestätigung
einer wesentlichen Asbestfaserstaub-Einwirkung am
Arbeitsplatz wurden aufgrund erweiterter und gefestigter
Erkenntnisse über Dosis-Häufigkeits-Beziehungen
durch das Faserjahrmodell ergänzt.
Für die Beschäftigten dreier
arbeitsmedizinisch bedeutsamer Bereiche (Asbestzementindustrie.
Asbesttextilindustrie, Asbestisolierbranche) wurde
eine Verdopplung der Sterberate an Lungenkrebs im
Vergleich zur übrigen Bevölkerung beim
Erreichen einer bestimmten kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis**)
epidemiologisch nachgewiesen (Verdopplungsdosis).
Als verallgemeinerungsfähige Verdopplungsdosis
werden 25 Faserjahre angesehen. Die Verdopplungsdosis
ist erreicht, wenn das Produkt k x J oder die Summe
der Produkte mindestens 25 Faserjahre beträgt.
Der begründete Verdacht des Vorliegens
eines durch Asbestfaserstaub verursachten Lungenkrebses
ist gegeben bei langjähriger und intensiver
Asbestfaserstaub-Gerährdung am Arbeitsplatz,
verbunden mit:
*) Für die röngtgenologische
Diagnose der Asbestose von Lunge und/oder Pleura
ist die Internationale Staublungen-Klassifikalion
(ILO/80 Bundesrepublik Deutschland) in optimaler
Hartstrahltechnik anzuwenden (s. auch Anhang zum
Merkblatt zu Nr. 4103)
**) Die Maßeinheit für
die Asbestfaserstaub-Dosis ist das Faserjahr. Faserjahre
sind das Produkt aus mittlerer Asbestfaserkonzentration
k (in 106 Fasern der kritischen Abmessungen
[Länge über 5 m
m Durchmesser unter 3 m
m, Verhältnis Länge : Durchmesser über
3 : 1] pro m3 Atemluft) und der Dauer
der Faserexpositit) J (in Jahren bei 8-Siundenschichten).
Bei wechselnder mittlerer Asbestfaserkonzentation
(ki) über wechselnde Expositionszeiten
(Ji) ergeben sich die Faserjahre aus
der Summe der Produkte ki x Ji.
1. Asbestose der Lungen
a) bei Vorliegen röntgenologischer
Lungenveränderungen mindestens ab der Streuung
1/0 oder bei
b)."Minimalasbestoses" (durch histologisch bestätigten
Befund) oder
2. mit durch Asbestfaserstaub verursachten
Veränderungen der Pleura, wie im Anhang zu
Merkblatt zu Nr. 4103 ausgeführt.
Bei Lungenkrebserkrankungen nach langjähriger
und intensiver Asbestfaserstaub-Gefährdung
am Arbeitsplatz ist auch bei schwächeren oder
fehlenden Anzeichen auf die o.a. Befunde im Hinblick
auf die erforderliche Ermittlung einer zurückliegenden
kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz
(mindestens 25 Faserjahre) eine Anzeige geboten.
Rechenbeispiele für 25 Faserjahre:
1) |
25 x
|
106 F/m3
|
x
|
1 J.
|
=
|
25
Faserjahre |
2) |
2 x
|
106 F/m3
|
x
|
12,5 J.
|
=
|
25
Faserjahre |
3) |
0,5 x
|
106 F/m3
|
x
|
50 J.
|
=
|
25
Faserjahre |
4) |
0,5 x
|
106 F/m3
|
x
|
20 J.
|
=
|
10
Faserjahre |
|
+
|
106 F/m3
|
x
|
15 J.
|
=
|
15
Faserjahre |
|
|
Summe
|
|
|
=
|
25 Faserjahre
|
Kehlkopfkrebs
Die Inzidenz von Larynxkarzinomen
in der Allgemeinbevölkemng beträgt 4 bis
7 Fälle pro 100 000 Einwohner und Jahr. Die
Latenzzeit, d. h. die Zeit zwischen Beginn der Einwirkung
krebserzeugender Noxen und dem Krankheitsbeginn
beträgt erfahrungsgemäß mindestens
10 Jahre. Ein besonders bedeutsamer und vielfach
bestätigter Risikofaktor für diese Karzinomlokalisation
ist das Tabakrauchen. In einigen Studien konnte
darüber hinaus eine Assoziation zwischen dem
Auftreten von Larynxkarzinomen und dem Alkoholkonsum
nachgewiesen werden. Fall-Kontroll-Studien. bei
denen die wichtigsten, nicht arbeitsbedingten Risikofaktoren
adjustierend berücksichtigt werden konnten,
ergaben eine wesentliche Mitverursachung des Kehlkopfkrebses
durch eine langjährige intensive Asbestfaserstaub-Einwirkung
am Arbeitsplatz. Ergebnisse der Kohortenstudien
weisen in die gleiche Richtung. In Studien, in denen
sowohl die Rauchgewohnheiten berücksichtigt
als auch die Asbestfaserstaub-Einwirkung objektiv
und quantitativ erfaßt werden konnten, fanden
sich Expositions-Wirkungsbeziehungen. Hinzu kommt
das molekularbiologische und zytogenetische Wissen
über die lokal krebserzeugende Wirkung von
Asbestfasern kritischer Abmessungen, das bevorzugte
Depositions- und Impaktionsverhalten dieser Fasern
im Larynxbereich einschließlich des Vorkommens
nicht maligner asbestfaserbedingter Effekte. Darüber
hinaus fanden sich in Studien nicht nur eine positive
Assoziation zwischen Pleuraplaques und dem Kehlkopfkrebsrisiko,
sondern auch Hinweise auf Dosis-Häufigkeitsbeziehungen
und Konsistenz der Studienergebnisse. Letztere gilt
z. T. unter Adjustierung der wichtigsten, nicht
arbeitsbedingten Risikofaktoren wie der Rauch- und
Alkoholkonsumgewohnheiten. Hieraus ist beim Nachweis
der gem. Nr. 4104 für die Anerkennung als asbestverursachter
Lungenkrebs bereits bisher geforderten Röntgenbefunde
auch für den Kehlkopfkrebs die Asbestverursachung
als wesentliche Mitursache begründet. Zur Charakterisierung
einer Risikoverdopplung gelten die o. g. Kriterien
der Erkrankung an Lungenkrebs.
Die Ermittlung der zurückliegenden
kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz
obliegt in der Regel dem Unfall-Versicherungsträger.
V.
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